NRW-Enquetekommission empfiehlt Bürgerräte

Bildarchiv des Landtags Nordrhein-Westfalen / Bernd Schälte

Eine Enquetekommission des nordrhein-westfälischen Landtags empfiehlt die verstärkte Nutzung zufällig geloster Bürgerräte. Am 18. Mai 2021 hatte die Kommission „Subsidiarität und Partizipation“ 85 Handlungsempfehlungen zu den Themen kommunalpolitische Ehrenamt, politische Beteiligung, politische Bildung, Digitalisierung und zur Zusammenarbeit der Landtage vorgelegt.

„Bürgerräte (…) nehmen in der Diskussion um geeignete Instrumente zur Stärkung der Demokratie in den letzten Jahren eine immer größere Rolle ein“, stellt der Bericht der Enquetekommission fest. Die dabei per Zufallsauswahl ermittelten Bürgerinnen und Bürger trügen in enger Anbindung an die Politik und unter Beteiligung von Expertinnen und Experten zur Klärung poli­tischer Streitfragen bei. Laien könnten hierdurch fundiert mitentscheiden.

Etablierte Beteiligungsformate mit Mängeln

Demokratie lebe von Beteiligung. Insbesondere der Bildungshintergrund und die finanzielle Situ­ation der Bürgerinnen und Bürger seien Einflussgrößen für die Beteiligung, aber auch Geschlecht, Alter und Migrationserfahrungen wirkten sich auf die Beteiligung aus. „Befunde der Beteiligungsforschung zeigen, dass auch die etablierten Formate der Partizipation längst nicht die ganze Bevölkerung er­reichen“, stellt der Bericht einleitend fest.

Ob beratende Beteiligungsformen der sozialen Selektivität der Beteiligung und der Unterrepräsentation bestimmter gesellschaftlicher Gruppen entgegenwirken, hänge maßgeblich von ihrer Ausgestaltung ab. Eine Schlüs­selrolle spiele dabei die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Um eine möglichst große Repräsentativität zu gewährleisten, biete sich eine Zufallsauswahl an. „Damit finden unterschiedliche Ideen und Interessen stärker Eingang und es können sich auch Bürgerinnen und Bürger in den Prozess einbringen, die bei anderen - parlamentarischen und direktdemokratischen Verfahren - unterrepräsentiert sind“, hebt der Kommissionsbericht hervor.

Bedingungen für ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft

Um ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft zu erreichen, müssten alle Fakto­ren begrenzt werden, die sonst der Beteiligung entgegenstünden, etwa durch die Gewährleistung von Kinderbetreuung, Kostenübernahme, Übersetzungen oder Gebärdendolmetschung sowie weitere inklusive Maßnahmen.

„Repräsentativ-parlamentarische, direktdemokratische und deliberative Verfahren stehen in einem Ergänzungsverhältnis“, heißt es in dem Bericht weiter. Führten deliberativen Elemente wie Bürgerräte zu einer stärke­ren Repräsentativität und Konsensorientierung der parlamentarischen Demokratie, sinke auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Einleitung eines Bürger- oder Volksbegehrens gegen bereits be­schlossene oder geplante Vorhaben komme. Insofern sei es falsch, direktdemokratische und de­liberative Verfahren gegeneinander oder beide zusammen gegen die repräsentativen Demokratie in Stellung zu bringen.

Vertrauen in die Demokratie stärken

„Stattdessen sollte man darüber nachdenken, wie sie als parallel existierende Stränge der Input-Legitimation so miteinander verknüpft und in eine tragfähige Balance gebracht werden können, dass sie das Vertrauen in die repräsentativen Institutionen und damit in die Demo­kratie insgesamt stärken“, schlagen die Kommissionsmitglieder vor. Länder und Kommunen gewännen dabei aufgrund ihrer Betroffenennähe und ihres Aufgabenprofils eine Schlüsselfunktion, die zugleich als Vorbild für demokratische Inno­vationen auf der Bundes- und transnationalen Ebene dienen könnte.

„Wir haben festgestellt, dass der Wunsch nach politischer Beteiligung ungebrochen besteht. Gleichwohl lassen sich Anzeichen für eine Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie nicht leugnen. Ablesbar sind sie etwa am Erstarken systemfeindlicher populistischer Parteien, der sich ausweitenden Netzöffentlichkeit mit kleinteiligeren Gruppeninteressen und sozialer Ungleichheit“, sagt der Vorsitzende Dr. Stefan Nacke bei der Vorstellung des Kommissionsberichts.

Herrschafts- und wertefreier Diskurs

Deliberative Verfahren zeichnen sich nach Meinung der Enquetekommission durch die Einbindung möglichst großer Teile der Zivilgesellschaft in einen herrschafts- und wertfreien Dis­kurs aus. Sie setzten sich zum Ziel, im Wege einer rationalen vernunftgeleiteten Diskussion den je­weils „besseren Argumenten“ zur Durchsetzung zu verhelfen und so eine breit legitimierte Ent­scheidung herbeizuführen.

Im Unterschied zu den direktdemo­kratischen Verfahren seien deliberative Instrumente stärker dialogorientiert und könnten eine kon­struktive Ergänzung der parlamentarischen Demokratie darstellen. „Es geht bei ihnen nicht nur um die Entscheidung an sich, sondern um einen bestmöglichen Aushandlungsprozess und das Anhören und Einbinden unterschiedlicher Interessen“, so der Bericht. Thematisch bewährt hätten sich deliberative Verfahren bei Infrastrukturmaßnahmen (insbesondere auf der kommunalen und Länderebene). Geeignet seien sie zudem - wie Beispiele aus dem Ausland und vereinzelte inländische Projekte zeigten - auch für Verfahrensfragen und institutionenpolitische Themen.

Ein Bürgerrat zu Bürgerräten

Als Konsequenz daraus empfiehlt die Enquetekommission, zu prüfen, inwieweit (in einem ersten Schritt) ein Bürgerrat auf Landesebene mit den gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen ein Konzept zu Etablierung und Implementierung deliberativer Verfahren für Kommunen und Land unter Erprobung verschiedener Diskussionsformate entwickeln kann.

Die Enquetekommission hatte sich in 32 Sitzungen mit fachlicher Expertise durch wissenschaftliche Kurzpapiere und Vorträge der sachverständigen Mitglieder befasst. In neun Anhörungen und Beteiligungsformaten hatten mehr als 80 Sachverständige Stellung genommen. Zudem hatte die Kommission ein wissenschaftliches Gutachten beauftragt.

Mitglieder der Enquetekommission

Der Kommission gehörten 13 Mitglieder aller Fraktionen sowie fünf sachverständige Mitglieder an. Vorsitzender der Enquetekommission war Dr. Stefan Nacke (CDU), Sprecherin bzw. Sprecher der Fraktionen waren Björn Franken (CDU), Professor Dr. Rainer Bovermann  (SPD), Angela Freimuth (FDP), Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) und Roger Beckamp (AfD). Stellvertretende Vorsitzende war Ina Spanier-Oppermann (SPD). Als sachverständige Mitglieder waren Dr. Martin Florack, Professor Dr. Frank Decker, Dr. Raban Daniel Fuhrmann, Professorin Dr. Caja Thimm und Dr. Georg Binzenbach benannt worden.

Mehr Informationen: Enquetekommission „Subsidiarität und Partizipation“